Der Volksaufstand am 17. Juni 1953
Der 3. Oktober ist für uns heute ganz selbstverständlich der Tag der deutschen Einheit seit der Wiedervereinigung Deutschlands an diesem Datum im Jahr 1990. Doch viele Jahre lang wurde dieser Feiertag an einem ganz anderen Tag begangen: am 17. Juni, dem Jahrestag des Volksaufstands in der DDR im Jahr 1953. Doch warum wurde gerade dieser Tag als so wichtig für die deutsche Einheit betrachtet? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich näher mit den Ereignissen des Jahres 1953 befassen.
Ursachen und Vorgeschichte des Aufstands
Der Aufstand vom 17. Juni kam nicht aus dem Nichts, sondern hatte seine Ursachen in mehreren längerfristigen Entwicklungen und Ereignissen.
Die wirtschaftliche Krise von 1953
Im Jahr 1953 war die Wirtschaftslage in der DDR an einem Tiefpunkt angekommen. Ursache dafür war neben den hohen Reparationszahlungen an die Sowjetunion vor allem die überstürzte Einführung der sozialistischen Planwirtschaft durch die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Gemäß den sowjetischen Vorgaben war die Industrieproduktion in erster Linie auf Rüstung und Schwerindustrie ausgerichtet. Die Produktion von Konsumgütern wurde vernachlässigt, der Lebensstandard war insgesamt deutlich niedriger als im Westen.
Durch die Bodenreform in der Landwirtschaft war auch die Nahrungsmittelproduktion beeinträchtigt. Aufgrund schlechter Ernten im Jahr 1952 kam es zu Versorgungsengpässen bei Lebensmitteln. Die Preise stiegen und einige Nahrungsmittel, wie zum Beispiel Butter und Zucker, mussten rationiert werden. Den hohen Preisen standen niedrige Löhne und Renten gegenüber, was zu Unruhe in der Bevölkerung führte.
Die Zweite Parteikonferenz der SED
Im Juli 1952 beschloss die SED auf ihrer Zweiten Parteikonferenz den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“, also eine Beschleunigung der bereits begonnenen Maßnahmen. In der Folge wurden noch mehr Bauernhöfe zwangskollektiviert und zum Eintritt in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) gezwungen. Noch mehr Industriebetriebe wurden enteignet und verstaatlicht. Die Reste des Föderalismus wurden abgeschafft, indem die alten Länder durch neu geschaffene Bezirke ersetzt wurden. Gleichzeitig wurden systemkritische Meinungen, vor allem in der evangelischen Kirche und im Kulturbetrieb, stärker verfolgt und es kam zu zahlreichen Verhaftungen.
Die Fluchtwelle in den Westen
Immer mehr Menschen verließen die DDR in Richtung Westdeutschland auf der Suche nach einem höheren Lebensstandard und mehr persönlicher Freiheit. In den Jahren 1952 und 1953 kam es zu einer regelrechten Fluchtwelle. Etwa 180 000 Menschen pro Jahr verließen das Land und trugen damit weiter zum Arbeitskräftemangel bei. Dies hatte eine weitere Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der DDR zur Folge und ließ die Menschen an der propagierten Überlegenheit des Sozialismus zweifeln.
Der Anlass zum Aufstand: die Erhöhung der Arbeitsnormen
Als Gegenmaßnahme gegen die wirtschaftliche Krise beschloss die SED-Führung im Mai 1953 eine Erhöhung der Arbeitsnormen in den Betrieben um 10,3 %. Diese Normen wurden staatlich festgesetzt und mussten eingehalten werden. In der Praxis bedeutete das, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter mehr arbeiten sollten, ohne dafür jedoch einen Lohnausgleich zu erhalten, also eine faktische Lohnsenkung. Es braucht nicht viel Empathie, um die empörte Reaktion der Bevölkerung auf diese Vorgaben zu verstehen.
Als deutlich wurde, dass die Beschlüsse der Parteikonferenz zu Spannungen in der Bevölkerung führten, verkündete die SED, auch auf Druck der Sowjetunion hin, am 9. Juni 1953 ihren „Neuen Kurs“. Ein Teil der beschlossenen Maßnahmen wurde abgemildert oder zurückgenommen, allerdings hatte die Erhöhung der Arbeitsnormen Bestand. Der von der Parteiführung erhoffte Effekt blieb aus. Die Zugeständnisse wurden lediglich als Ausdruck von Schwäche und Unfähigkeit interpretiert.
Erste Proteste
Bereits ab dem 12. Juni kam es auf dem Land zu Protesten gegen die LPGs. Am 15. und 16. Juni riefen die Bauarbeiter in Ostberlin zum Streik auf. Da die Betriebe verstaatlicht worden waren, richtete sich ihr Unmut direkt gegen den Staat als ihren Arbeitgeber. Ein Artikel des SED-Funktionärs Otto Lehmann in der Gewerkschaftszeitung „Tribüne“, der die Erhöhung der Arbeitsnormen als gerechtfertigt verteidigte, trug zusätzlich zur Aufheizung der Stimmung bei. Die geplanten Protestzüge zum Haus der Ministerien wuchsen schnell zu größeren Demonstrationen heran, als sich unter dem Ruf „Kollegen, reiht euch ein. Wir wollen freie Menschen sein!“ weitere Menschen anschlossen.
„Kollegen, reiht euch ein. Wir wollen freie Menschen sein!“ – mit diesem Ausruf mobilisierten Bauarbeiter in Ostberlin zu großen Demonstrationen gegen die neuen Arbeitsnormen.
Der 17. Juni 1953
Die Protestbewegung erreichte ihren Höhepunkt am 17. Juni mit dem Aufruf zu einem Generalstreik. In über 600 Betrieben im ganzen Land wurde gestreikt. In mehr als 700 Städten kam es zu spontanen Demonstrationen und Protestaktionen. Der Widerstand hatte teils gewaltsame Züge: Büros der SED, Verwaltungsgebäude und Polizeiwachen wurden angegriffen und in Brand gesetzt, Gefängnisse gestürmt, um politische Häftlinge zu befreien. Die DDR-Regierung floh nach Karlshorst und stellte sich unter den Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht.
Die Forderungen der Protestierenden
Im Verlauf der Protestaktionen weiteten sich die Forderungen der Protestierenden immer weiter aus. An Anfang standen wirtschaftliche und soziale Ziele, wie die Rücknahme der Normerhöhung und die Senkung der Lebenshaltungskosten durch geringere Lebensmittelpreise.
Doch im Lauf der Proteste kamen immer mehr politische Forderungen hinzu, so z. B. die Freilassung politischer Gefangener, mehr politische Mitbestimmung durch freie Wahlen und direkte Kritik an der Regierung Ulbricht, bis hin zur Forderung nach ihrem Rücktritt. Mit der Forderung nach einer Wiedervereinigung Deutschlands richteten sich die Demonstranten schließlich auch gegen die sowjetische Besatzungsmacht.
Vertiefung: Walter Ulbricht
Walter Ulbricht (1893–1973) war von 1950 bis 1971 der Vorsitzende des Zentralkomitees der SED und damit der mächtigste Mann im Staat der DDR. Außerdem nahm er führende Rollen im Ministerrat ein und war ab 1960 auch Staatsratsvorsitzender. Ulbricht war unter anderem für den Bau der Berliner Mauer verantwortlich. Um seine Person entstand in der DDR zeitweise ein regelrechter Kult mit zahlreichen Ehrungen und übersteigerter Verehrung als Landesvater.
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Walter Ulbricht |
Die Rolle des RIAS Berlin
Der Westberliner Sender RIAS wurde durch seine intensive Berichterstattung mit zahlreichen Sondersendungen während des Aufstands zur wichtigsten Nachrichtenquelle für die Bevölkerung der DDR, da die eigenen Medien unter staatlicher Gleichschaltung standen und den Volksaufstand somit in ideologischen Mustern deuteten. Die amerikanischen Besatzungsbehörden lehnten ein direktes Eingreifen allerdings ab und forderten eine neutrale Haltung. Dennoch spielte der Sender RIAS eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung des Protests.
Der „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ wurde 1946 durch die amerikanische Besatzungsmacht in Westberlin als Gegenstimme zum sowjetisch dominierten Berliner Rundfunk gegründet. Der RIAS war in der DDR empfangbar und sah als „freie Stimme der freien Welt“ seine Aufgabe unter anderem in der Verbreitung westlicher demokratischer Werte. Erreicht werden sollte dies durch ein gemischtes Programm mit Nachrichten und kritischer Berichterstattung über die DDR, aber auch Bildung und Unterhaltung. Beim RIAS arbeiteten deutsche Journalisten, die Sende- und Programmaufsicht lag aber bis 1953 bei einer amerikanischen Aufsichtsbehörde.
Niederschlagung des Aufstands durch sowjetische Truppen
Da die Polizei der DDR mit den Protesten überfordert war, griff die Sowjetunion direkt ein und erklärte den Ausnahmezustand in einem großen Teil des Lands, sodass dort wieder Kriegsrecht galt. Durch dieses konnte das sowjetische Militär Versammlungsverbote und eine nächtliche Ausgangssperre verhängen. Der Aufstand wurde dann von sowjetischen Truppen und Angehörigen der Kasernierten Volkspolizei gewaltsam, unter Einsatz von Panzern, niedergeschlagen. Die Westalliierten griffen nicht ein. Insgesamt wurden mindestens 50 Menschen getötet, die genaue Zahl steht allerdings nicht fest. Im Anschluss an den Aufstand wurden circa 10 000 Menschen festgenommen und viele von ihnen zu Freiheitsstrafen verurteilt, einige wenige sogar hingerichtet.
Die Auswirkungen des Volksaufstands
Sowohl im Osten als auch im Westen erwies sich der Aufstand als folgenreich. Das lag vor allem an seiner jeweiligen Interpretation – auf der einen Seite durch die kommunistische SED-Führung der DDR und auf der anderen Seite durch die der Westbindung verpflichtete Bundesregierung der BRD.
Die Folgen im Osten
Die SED-Führung war durch den Aufstand massiv erschüttert worden. Ihre Selbstdarstellung als Vertreter der Arbeiterklasse war hinfällig geworden. Um ihre Fehler nicht eingestehen zu müssen, verbreitete sie eine Verschwörungstheorie, wonach der Aufstand ein „faschistischer Putschversuch“ gewesen sei, der von den USA und dem RIAS in Berlin aus der Ferne gesteuert wurde. Gegenüber den Aufständischen war die Strategie zweigleisig: Einige von ihnen wurden als vermeintliche westliche Agenten hart bestraft. Die große Masse der Protestierenden wurde dagegen als irregeleitete Mitläufer dargestellt, um nicht zugeben zu müssen, wie groß die Unzufriedenheit mit der Regierung wirklich war. In jedem Fall nutzte die SED-Führung den Aufstand, um ihr antiwestliches Feindbild innerhalb der Partei zu festigen.
Diese Doppelstrategie setzte sich fort: Auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene machte die Regierung nach dem Aufstand Zugeständnisse, wie Lohnerhöhungen, Preissenkungen und ein größeres Bemühen um einen angemessenen Lebensstandard. Unterstützt wurde sie dabei von der Sowjetunion mit Lebensmittellieferungen und dem Verzicht auf weitere Reparationen.
Auf politischer Ebene führte der Aufstand jedoch zu einer Verhärtung des bisherigen Kurses hin zu einem sozialistischen Staat. Insbesondere wurde der staatliche Überwachungsapparat mit Staatssicherheit, Kasernierter Volkspolizei und Einsatzstäben für den Notfall erheblich ausgebaut. Auch der Bau der Berliner Mauer kann letztlich als eine Spätfolge des Aufstands vom 17. Juni gesehen werden.
Reaktionen im Westen
Der Volksaufstand vom 17. Juni war die erste große Erhebung gegen den Kommunismus und die Vorherrschaft der Sowjetunion in Osteuropa, noch vor den Aufständen in Ungarn und dem sogenannten „Prager Frühling“. Ohne das militärische Eingreifen der Sowjetunion hätte er eine Chance zur frühen Wiedervereinigung Deutschlands darstellen können.
In der Bundesrepublik wurden die Proteste als Scheitern der kommunistischen Ideologie und als Sieg für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte interpretiert. In dieser Sichtweise disqualifizierte sich durch den Aufstand das Selbstverständnis der DDR als sozialistische Alternative zum westdeutschen Staat. Die Demaskierung als Diktatur unter sowjetischer Führung unterstützte den Alleinvertretungsanspruch Adenauers und rechtfertigte seine Politik der Westbindung.
Gleichzeitig war die Bundesregierung aber nicht in der Lage, zugunsten der Protestierenden aktiv einzugreifen, da die Westmächte keinen offenen Konflikt mit der Sowjetunion wollten. Als symbolische Geste wurde deshalb der 17. Juni durch den Bundestag zum Tag der deutschen Einheit erklärt.
Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 – Zusammenfassung
- Im Jahr 1953 steckte die DDR in einer wirtschaftlichen Krise, bedingt durch die Einführung der Planwirtschaft und die daraus resultierenden Versorgungsengpässe.
- Konkreter Anlass für den Aufstand am 17. Juni war eine Erhöhung der Arbeitsnormen in den Betrieben, die zu Streiks und Protesten führte.
- Die Proteste weiteten sich zum Volksaufstand aus, der große Teile des Lands erfasste. Die Forderungen der Bevölkerung richteten sich zunehmend gegen die SED-Herrschaft und die sowjetische Besatzungsmacht.
- Der Aufstand wurde von sowjetischen Truppen und der Kasernierten Volkspolizei brutal niedergeschlagen. In der Folge wurde die politische Unterdrückung in der DDR verstärkt und ausgebaut.
- In der Bundesrepublik wurde der 17. Juni als Tag der deutschen Einheit zum Gedenktag erklärt.