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„Jakob der Lügner“ – Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte (Becker)

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„Jakob der Lügner“ – Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte (Becker)
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Grundlagen zum Thema „Jakob der Lügner“ – Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte (Becker)

„Jakob der Lügner“ wurde zweimal verfilmt und gewann 1975 die Berlinale. Hättest du das gedacht? Und ist dir auch klar, dass Jurek Becker nicht eine historische Geschichte, sondern eine Parabel über die Kraft des Glaubens und der Phantasie erzählt? In diesem Video erfährst du einiges über das Erzählgeflecht und die Symbole in dem erfolgreichen Roman. Du lernst ein paar Rezensionen kennen sowie literaturkritische Fragen, die bis heute noch schwer zu beantworten sind - weshalb der Roman nichts an Aktualität eingebüßt hat. Gutes Infotainment!

Transkript „Jakob der Lügner“ – Interpretationsansatz und Rezeptionsgeschichte (Becker)

Bäume als Textelement

Im Ghetto sind Bäume verboten. Jakob fragt sich, warum das so ist. Kannst du es dir denken? Was symbolisiert ein Baum für die Menschen?

Ein Baum bedeutet Hoffnung und Wachstum, also Zukunft. Denn er kann laut Bibel Hiob (14,7) wieder ausschlagen, auch wenn er abgehauen worden ist. Ein Baum bedeutet Leben. Ebenfalls in der Bibel, im ersten Buch Mose, gibt es den “Baum des Lebens” und den “Baum der Erkenntnis”.

Die Sioux-Indianer haben einen Welten-Baum, unter dessen Zweigen die Menschen wohnen. Bei den Mayas gibt es die Ceiba, der heilige Baumwollbaum. Er ist Mittelpunkt des Dorfplatzes und zugleich Mutterbaum der Menschheit.

Im Ghetto gibt es keine Bäume. Denn es gibt keine Hoffnung. Alles, was auf Leben hindeutet, soll vernichtet werden.

Dabei sind gerade Bäume für den Erzähler so wichtig, denn viele seiner persönlichen Erinnerungen sind mit Bäume verknüpft. Mittlerweile wohnt er in einer Stadt mit Parks. Dank der Bäume, die er vor seiner Wohnung sieht, findet er den Weg zurück in die Vergangenheit und kann leichter erzählen. So bilden die Bäume die Übergänge zwischen Erzählergegenwart und Erzählervergangenheit.

Der Baum ist also auch ein Textelement, das Zeit- und Handlungsstränge miteinander verknüpft.

Während Jakob für den Erzähler “kein Mann wie ein Baum” ist, findet sich das Baum-Symbol in den Namen anderer Ghetto-Bewohner wieder: Professor Kirschbaum, Herschel Schtamm und der Gestapochef Hardtloff, also “Hartlaub”.

Stil und Sprache

Jurek Beckers auffälligstes Stilmittel aber ist die Unaufgeregtheit, mit der er erzählt.

Genau das macht die Faszination des Romans aus - dieser Plauderton. Immer wieder schweift der Erzähler ab, schweift Jakob ab. So werden selbst dramatische Vorgänge entdramatisiert. Der Schrecken und Terror wird eher beiläufig präsentiert.

Dabei bedient er sich oft bildhafter Redewendungen. Er neigt zu Einschüben und Unterbrechungen. Viele Abschnitte sind sehr szenisch gestaltet. Hier wird deutlich, dass Jurek Becker zunächst ein Drehbuch in 5-Akt-Struktur verfasst hat.

Episodisches, verwobenes Erzählen

Der Roman ist episodisch und dennoch verwoben: Die Episoden sind durch zwei gegenläufige Entwicklungen bestimmt und weisen erzählerische Höhepunkte auf.

Die eine Entwicklung greift den real-geschichtlichen Hintergrund des Romans auf - der wird durch das Schicksal einzelner Personen immer wieder in die Handlung geholt. Spannung erzeugt hier die ständige Drohung der Deportation und somit des Todes. Dramatischer Höhepunkt ist die Deportation der Eltern in der Episode “Rosa und Mischa”.

Die zweite Entwicklung bezieht sich auf Jakob und seine Radiolüge. Spannung erzeugt hier die Dynamik der spontanen Lüge und ihr Aufbauen als Strategie. Fantasievoller Höhepunkt ist die “Keller-Szene”, in der Jakob selbst zum Radio wird.

Beide Ebenen sind dann im doppelten Ende des Romans aufgehoben.

Lüge als elementarer Bestandteil der politischen Propaganda des Nazisystems

Lügen war ein elementarer Bestandteil der politischen Propaganda dieser Zeit. Gegen diese öffentlichen Lügen, die Verbrechen vertuschen sollen, setzt Jakob seine privaten Lügen, die Hoffnung geben. So gefährdet er sein eigenes Leben, rettet aber anderer Leben.

Auch das Radio - oft “Volksempfänger” genannt - war ein wichtiges technisches Mittel der Propaganda des Hitlersystems. Ausgerechnet dieses wendet Jakob gegen die Unterdrücker und Verfälscher der Wahrheit.

Voltaire sagt dazu: “Die Lüge ist ein Laster, wenn sie Böses tut. Und sie ist eine sehr große Tugend, wenn sie Gutes tut”.

Parabel über die Kraft der schöpferischen Phantasie

Der Roman ist also auch eine Parabel über die Kraft der schöpferischen Phantasie. Denn auch der Erzähler nähert sich der Wirklichkeit nicht nur durch Erinnerungsfähigkeit an - auch durch Kreativität. Er beansprucht keine gültige Wahrheit, sondern nimmt sich erzählerische Freiräume. Er kennt seine Grenzen und überschreitet sie bewusst. Dazu sagt Jurek Becker:

“Ich gebe ja nicht das Bild der Historie, wie sie gewesen ist, sondern ich erzähle eine Story und benutze die Geschichte des Weltkrieges auf eine Weise, wie ich sie für die Geschichte brauche; aber was das Ende angeht, so sind mir gewisse Grenzen gesetzt. (...) Durch die Realität.”

In “Jakob der Lügner” wird also das Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge, auf mehreren Ebenen kunstvoll aufgebaut. Die Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens werden zum Gegenstand des Romans.

Rezeption

Jurek Becker hatte bislang nur Drehbücher und Texte fürs Kabarett geschrieben. Sein Debüt-Roman “Jakob der Lügner” erschien 1969 beim Ost-Berliner Aufbau Verlag - und hatte Welterfolg. Der Roman wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

In der DDR selbst stellte man den Roman in eine Reihe mit der deutschen antifaschistischen Literatur. In Westdeutschland dagegen wurde die Erzählfreude und die Komik des Autors gelobt:

Laut Fritz J. Raddatz sei Becker eine “neue Definition von den Möglichkeiten der Literatur gelungen”.

Marcel Reich-Ranicki nennt den Roman “ein Stück Literatur mit Charme und Grazie und mit viel Humor.”

Rolf Michaelis lobt den “melancholischen Witz, die lächelnde Trauer und die ungeschminkte Wahrheit dieses Buches”.

Peter Demetz definiert “Jakob der Lügner” als eine “Geschichte über die lebenserhaltende Macht der Fiktionen”.

Verfilmungen

Die erste Verfilmung gewann jedenfalls den Silbernen Bären auf der Berlinale 1975 und wurde als einzige DDR-Produktion je für den Oscar als bester ausländischer Beitrag nominiert.

Unter der Regie von Frank Beyer spielte Armin Mueller-Stahl den Roman Schtamm und Herny Hübchen den Mischa.

Im Jahr 1999 kam das amerikanisches Remake von Regisseur Peter Kassovitz in die Kinos. Die Titelrolle spielt Robin Williams.

Der Film erreichte bei Weitem nicht die Qualität des deutschen Originals: Die Nationalsozialisten werden als von Natur aus böse dargestellt, wie es im Buch nicht der Fall ist. Jakob Heym stirbt als Märtyrer, indem er durch die Nazis erschossen wird - das wünschenswerte Ende des Erzählers.

Schlussbetrachtung

Bei dem eher wirklichkeitsgetreuen Ende betrachtet der Erzähler auf seinem vermeintlichen Weg in den Tod die vorbeiziehenden Bäume. Eine Hoffnung, dass die Schreckenszeit vergeht.

Bei ihm und auch bei Jurek Becker werfen die Bäume der Vergangenheit ihre Schatten in die Gegenwart. Denn - auch wenn die Geschichte erfunden ist - erklärt Becker: “Trotzdem spielt der Stoff in meinem Leben - zum Beispiel durch das Schicksal meiner Verwandten - eine große Rolle”.

Nachdem Jurek Becker den Stoff im Roman “Jakob der Lügner” verarbeitet hatte, sagte er zu sich: “Nie mehr widmest du dich dieser Thematik, jetzt wendest du dich dem richtigen Leben zu.”

Es folgten noch zwei Romane und mehrere Erzählungen zu der Thematik.

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