Es klingt wie aus der Skandalpresse: Ein Schüler bringt sich um, weil er schlechte Noten hat und von der Schule fliegen wird. Und ein 14-jähriges Mädchen wird schwanger und stirbt, weil die Mutter den Skandal mit einer unerlaubten Abtreibung zu vertuschen versucht. Wie kam der junge Wedekind auf eine solche Idee? Und in welcher Zeit spielt diese Tragödie?
Im Herbst 1890 setzte sich der 26 Jahre alte Frank Wedekind hin und begann, “Frühlings Erwachen” zu schreiben. Laut eigenen Angaben hatte er keinen genauen Plan, was er schreiben würde, sondern schrieb wild drauflos.
Autobiographische Einflüsse
Viele der Szenen sind dennoch autobiographisch inspiriert: „Fast jede Szene entspricht einem wirklichen Vorgang.“ schrieb er in einem Brief. Wedekind orientierte sich an Ereignissen, die er oder seine Mitschüler in der eigenen Schulzeit erlebt hatten.
Besonders prägend war ein Erlebnis: Der Selbstmord seines Mitschülers Moritz Dürr. Er wurde der Namensgeber für die Figur Moritz Stiefel. Der echte Moritz hatte Frank Wedekind von seinen Selbstmordplänen erzählt. Wedekind hatte schon damals die Idee, ein Drama darüber zu schreiben. Doch erst jetzt, fünf Jahre später, setzte er seine Idee in Tat um.
Selbst die Worte, die Wedekind Moritz Vater in den Mund legt, hat es in Wirklichkeit gegeben. „Der Junge war nicht von mir“ sagt Vater Stiefel an Moritz Beerdigung immer wieder. Sie wurden Wedekind als Übertreibung vorgeworfen. Doch Wedekind hatte sie aus dem selbst Erlebten und Gehörten übernommen.Was war das für eine Zeit, in der Wedekind lebte? In der er zur Schule gegangen und die Erfahrungen gemacht hatte, die in sein Stück einflossen?
Die Periode der Gründerzeit
Als Frank Wedekind 1864 geboren wurde, war die Industrialisierung schon weit vorangeschritten. Überall wurde produziert. Der technische Fortschritt führte zu besseren Maschinen und Produktionsweisen. Die Menschen strömten in die Städte, um in den Fabriken zu arbeiten. Diese Zeit brachte auch wirtschaftlichen Aufschwung mit sich. Man nennt diese Periode „Gründerzeit“.
Das Deutsche Kaiserreich
Als Frank sieben Jahre alt war, wurde Wilhelm der I. deutscher Kaiser. Das war der Beginn des Deutschen Kaiserreiches. Es dauerte bis 1918. Zufällig starb auch Wedekind genau in diesem Jahr. Der Kaiser war Alleinherrscher. Er bestimmte über das gesamte Reich. Diese Art zu herrschen nennt man auch autoritär.
Strenge Familienstrukturen und Leistungsdruck
Doch nicht nur der Kaiser war autoritär, auch in der Gesellschaft herrschten autoritäre Leitbilder. Sie zeigten sich in den Familienstrukturen und in der Schule. In den Familien war der Vater das Familienoberhaupt, ihm hatten die Kinder widerspruchslos zu gehorchen. In den Schulen wurde der Leistungsdruck immer stärker.
Die Tabuisierung der Sexualität
Die Schule sollte auch die kaiserlichen und konservativen Werte vermitteln. Somit war die Hierarchie in Schulen klar: Der Rektor und die Lehrer standen ganz oben, die Schüler standen unten und hatten auch hier zu gehorchen. Auch wurden in der Schule bürgerliche Moralvorstellungen vermittelt. Dazu gehörte die Tabuisierung der Sexualität – an Aufklärungsunterricht war nicht zu denken!
Ein halbes Jahr nachdem Wedekind den Stift gezückt hatte, war sein Stück fertig. Da kein Verlag Interesse daran hatte, ließ er es auf eigene Kosten drucken. Natürlich wurde das Stück von der moralisch strengen Gesellschaft als Provokation empfunden.
Die Zensur des Stücks
Selbst als es 15 Jahre später in Berlin uraufgeführt wurde, verbot die Zensur drei Szenen: die Szene, in der Wendla sich schlagen lässt, die Selbstbefriedigungsszene Hänschens und die homoerotische Szene zwischen Hänschen und Ernst. Den vermummten Herrn spielte Wedekind in der Uraufführung übrigens selbst.
„Eine Kindertragödie“
Seine Tragödie nannte er „Eine Kindertragödie“. Die Gattungsbezeichnung „Kindertragödie“ hatte er erfunden. Literaturgeschichtlich lässt sich “Frühlings Erwachen” schwer einordnen. Vom Zeitpunkt her gehört sie zur „Literatur um die Jahrhundertwende“. Zur Epoche des Naturalismus, in der es auch darum ging die Wirklichkeit abzubilden, kann sie auf keinen Fall gezählt werden, denn Wedekind grenzte sich nachdrücklich davon ab.
Der Aktualitätsbezug
Seit der Uraufführung verschwand “Frühlings Erwachen” nicht mehr vom Spielplan deutscher Bühnen. Auch in vielen Schulen gehört es zur Pflichtlektüre. Denn Teenagerschwangerschaft und Selbstmord unter Jugendlichen – diese Themen bleiben aktuell, im Deutschen Kaiserreich genau so wie im modernen Deutschland.
Großartige Hinführung zum Drama!