Kannst du mit deinen Eltern über alles reden, was dich beschäftigt? Und geben sie dir Antworten auf deine Fragen? Wenn ja, dann geht es dir anders als den Jugendlichen in “Frühlings Erwachen”. Sie sind mit ihren Fragen allein. Und die Erwachsenen haben keine Ahnung, was die Jugendlichen wirklich beschäftigt.
Moritz Stiefels Gefühlswelt
Schauen wir uns zuerst die Jugendlichen an. Da ist Moritz Stiefel. Er hat Mühe, in der Schule mitzukommen, obwohl er sehr viel lernt. Er fürchtet sich davor, nicht versetzt zu werden. Sitzenzubleiben oder von der Schule zu fliegen wäre eine große Schande für ihn. Moritz fühlt sich minderwertig. Schon früh spielt er mit dem Gedanken, sich umzubringen, falls er es in der Schule nicht schafft.
Zugleich beschäftigen Moritz seine sexuellen Gefühle. Er schämt sich für seine Erregung und für sein Interesse an Fortpflanzungsfragen, über die er nicht Bescheid weiß. Zum Glück hat er einen engen Vertrauten, der ihm nicht nur in der Schule hilft, sondern mit dem er auch über alles andere reden kann: Melchior Gabor.
Melchior Gabor - der Belesene
Melchior ist ein hervorragender Schüler. Doch er ist kein Streber, viel lieber sinnt er auf einsamen Spaziergängen über das Leben nach oder verbringt die Abende mit seinem Freund Moritz im Freien. Melchior ist sehr aufgeweckt und kritisch, er nimmt auch kein Blatt vor den Mund. Auch in Sachen Sexualität weiß Melchior mehr als Moritz. Sein Wissen hat er aus Büchern und Beobachtungen.
Melchior hat einen unverkrampften Umgang mit diesem Wissen. Doch wenn er seinen körperlichen Trieben direkt ausgesetzt ist, verliert auch er die Überlegenheit und Kontrolle. Das zeigt sich besonders in seinen Begegnungen mit einem Mädchen: Mit Wendla Bergmann.
Wendla Bergmann - die Selbstbewusste
Melchior kann sich nicht zurückhalten: Einmal schlägt er sie auf ihre Aufforderung hin, das andere Mal schläft er mit ihr, obwohl sie ihn abwehrt. Es ließe sich auch sagen: Er vergewaltigt sie. Wendla ist ein selbstbewusstes Mädchen, das sich in ihrem Körper und in kurzen Röcken wohlfühlt. Auch sie steckt mitten in der Pubertät, grübelt über den Tod nach und will endlich eingeweiht werden in die Geheimnisse der Erwachsenen.
Wendlas Verlangen nach Aufklärung
An den Storch glaubt sie längst nicht mehr. Wendla ist aufgeweckt, allerdings hat sie keinen Zugang zu Bücherwissen wie Melchior. Sie versucht, ihre Mutter dazuzubringen, sie aufzuklären.
Das Schamgefühl Frau Bergmanns
So, kommen wir zu den Erwachsenen: Wendlas Mutter ist von ihren eigenen Moralvorstellungen gefangen. Die beiden haben ein zärtliches Verhältnis, doch Frau Bergmann schämt sich, ihre vierzehnjährige Tochter aufzuklären. Zugleich sieht sie, dass Wendla sich körperlich entwickelt. Frau Bergmann verkennt, wie reif Wendla schon ist und dass sie sich für Jungs interessiert. Sie speist ihre Tochter mit einer Halbwahrheit ab.
Als Wendla erfährt, dass sie schwanger ist, klagt sie: „O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!“ (S. 70.) Bis zuletzt ist Frau Bergmann von ihrem Schamgefühl bestimmt: Um der Familie die Schande zu ersparen, lässt sie eine fremde Frau kommen, um die Abtreibung durchzuführen. Und selbst als Wendla stirbt, vertuscht sie die Wahrheit.
Melchiors Mutter
Viel fortschrittlicher und näher bei den Jugendlichen ist Melchiors Mutter, Frau Gabor. Sie hat Melchior zwar auch nicht aufgeklärt, doch hat sie großes Verständnis für die schulischen Probleme von Melchiors Freund Moritz. Sie bringt den beiden Jungen Tee aufs Zimmer und antwortet Moritz ernsthaft und sich kümmernd, als er sich brieflich an sie wendet.
Sie lässt Melchior lesen, was er will, auch wenn sie ihm von Goethes Faust in seinem Alter abrät. Wie wenig allerdings auch sie von ihrem Sohn weiß, zeigt sich, als sie von Wendlas Schwangerschaft erfährt. Dass Melchior so triebgesteuert und unbedacht handelt, hätte sie nicht für möglich gehalten.
Die herzlosen Lehrer
Als herzlose Erwachsene erweisen sich die Lehrer. Allein schon ihre Namen – von Zungenschlag über Sonnenstich zu Fliegentod – zeigen sie als Karikaturen. Für sie zählt allein die schulische Leistung. Fürs Menschliche haben sie kein Verständnis. Und selbst als Moritz sich erschossen hat, hat der Rektor nur Angst um den Ruf der Schule. Die Mehrheit der Lehrerschaft hingegen streitet sich um Kleinigkeiten.
Fazit der Tragödie "Frühlings Erwachen"
Die Erwachsenen des Stücks haben keinen Zugang zu der Gedanken- und Gefühlswelt der Jugendlichen. Ihre eigene Verklemmtheit und ihre Moralvorstellungen halten sie davon ab, wichtige Themen mit den Jugendlichen anzusprechen. Eine Ausnahme bildet ganz am Schluss der vermummte Herr. Er ist zwar auch erwachsen, doch er redet als Einziger offen mit Melchior. Als Symbolfigur steht er für das Leben.