Vom „Sozialistengesetz“ zur Sozialgesetzgebung
Das Sozialistengesetz und die Sozialgesetzgebung haben die soziale Absicherung in Deutschland geprägt. Erfahre, wie Bismarcks Politik die Sozialdemokratie beeinflusste und welche sozialen Sicherheiten eingeführt wurden. Neugierig? Lies weiter!
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Lerntext zum Thema Vom „Sozialistengesetz“ zur Sozialgesetzgebung
Vom „Sozialistengesetz“ zur Sozialgesetzgebung
Wer heute in Deutschland plötzlich erkrankt oder einen schweren Unfall hat, geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Krankenkasse die Kosten der Behandlung übernimmt. Im Fall einer Arbeitsunfähigkeit kann man Rente beziehen. Aber nicht in allen Ländern ist das so – in den USA etwa führen solche Situationen schnell in eine finanzielle Notlage. Woher kommt also diese gute soziale Absicherung hierzulande? Und wem haben wir sie zu verdanken?
Paradoxerweise wurden diese gesetzlichen Regelungen von einem Menschen ins Leben gerufen, der kein großes Interesse an der sogenannten Sozialen Frage hatte, nämlich von Otto von Bismarck (1815–1898), dem ersten Reichskanzler des Deutschen Reichs. Und dahinter steckte in erster Linie ein politisches Kalkül: der Kampf gegen die Sozialdemokratie.
Bismarcks Haltung zur Sozialdemokratie
Bismarck war ein konservativer Politiker, der sich in erster Linie der Einheit des Kaiserreichs unter einer preußisch-protestantischen Monarchie verpflichtet fühlte. Deshalb hatte er sich im Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus der Zentrumspartei positioniert und stand auch allen revolutionären und reformerischen Bewegungen misstrauisch gegenüber. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren für ihn „Reichsfeinde“ und politische Gegner und er machte sich bei ihrer Bekämpfung geschickt die bürgerliche Angst vor einem revolutionären Umsturz zunutze.
Otto von Bismarck, ca. 1880 |
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Bismarck verfolgte bei der Bekämpfung der Sozialdemokratie eine Doppelstrategie, die oft auch als „Politik mit Zuckerbrot und Peitsche“ bezeichnet wird. Verboten und Zwangsmaßnahmen auf der einen Seite stand auf der anderen Seite ein gewisses Entgegenkommen an die Forderungen der Arbeiterklasse gegenüber, wobei Bismarck sich auf unbedingt notwendige Zugeständnisse beschränken wollte.
Das Sozialistengesetz von 1878
Zwei erfolglose Attentatsversuche auf Kaiser Wilhelm I. lieferten Bismarck im Jahr 1878 trotz fehlender Beweise den Vorwand, die Schuld daran der Sozialdemokratie zuzuschieben und ein Gesetz zu deren Bekämpfung zu fordern. Als der erste Entwurf im Reichstag scheiterte, ließ er den Reichstag auflösen und Neuwahlen abhalten.
Am 22. Oktober 1878 verabschiedete die konservative und nationalliberale Mehrheit der Abgeordneten das „Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, kurz Sozialistengesetz. Das Zentrum und die linksliberale Deutsche Fortschrittspartei stimmten dagegen. Die Gültigkeit des Gesetzes war zeitlich auf zweieinhalb Jahre befristet, wurde aber bis zum Jahr 1890 mehrfach verlängert.
Bestimmungen und Umsetzung des Sozialistengesetzes
Die 30 Artikel des Gesetzes untersagten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beziehungsweise Sozialistinnen und Sozialisten (man unterschied damals kaum zwischen den beiden Begriffen) im Wesentlichen jegliche politische Tätigkeit. Verboten waren nicht nur ihre Organisationen, darunter auch Gewerkschaften, sondern auch politische Versammlungen und Veröffentlichungen, wie z. B. Parteizeitschriften. Nur die Abgeordneten im Reichstag waren durch ihre parlamentarische Immunität geschützt, da sie nach geltendem Wahlrecht als Person und nicht als Mitglied einer Partei gewählt worden waren.
Konkret führte das Gesetz zu massiven Zwangsmaßnahmen gegen die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie, zum Beispiel durch Hausdurchsuchungen und soziale Ächtung am Arbeitsplatz bis hin zum Verlust der Arbeitsstelle. Verstöße gegen das Gesetz wurden mit Geldstrafen, Berufsverboten, Ausweisungen sowie Inhaftierung bestraft.
Auswirkungen des Sozialistengesetzes
Bismarck hatte sich von diesen Maßnahmen eine Schwächung der Sozialdemokratie und die Unterdrückung von jeglichem revolutionärem Gedankengut erhofft, doch sie hatten im Gegenteil eher einen einheitsstiftenden Effekt auf die Sozialdemokratie. Viele sozialdemokratische Politikerinnen und Politiker gingen ins Exil und setzten von dort aus ihre Arbeit fort. Parteitage fanden im Ausland statt und die neue Parteizeitung Der Sozialdemokrat wurde außer Landes gedruckt und heimlich über die Grenzen geschmuggelt. Politisch aktive Menschen trafen sich im Geheimen und setzten ihren Aktivismus im Untergrund fort, oft getarnt als Sport- oder Musikvereine. Das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft wurde gestärkt und die sozialdemokratischen Direktkandidaten gewannen einen immer höheren Stimmenanteil bei den Reichstagswahlen. Nach Bismarcks Sturz im Jahr 1890 wurde das Sozialistengesetz schließlich nicht mehr weiter verlängert. Seine Politik der Unterdrückung war gescheitert und führte letztlich nur zu einer weiteren Entfremdung der Arbeiterklasse vom Staat.
Die bismarcksche Sozialgesetzgebung
Die zweite Säule in Bismarcks Strategie zur Bekämpfung der Sozialdemokratie war der Versuch, durch die Schaffung eines sozialen Auffangnetzes die Notlage der Arbeiterschaft zu verbessern und sie damit stärker an den Staat und die Monarchie zu binden. Zu diesem Zweck wurden nach und nach mehrere Versicherungen per Gesetz eingeführt:
- 1883 Krankenversicherung: Bei Krankheit und Mutterschaft kam die Versicherung für medizinische Behandlung und Krankengeld auf. Die Beiträge hierfür wurden zu einem Drittel von den Arbeitgebenden, zu zwei Dritteln von den Arbeitnehmenden gezahlt.
- 1884 Unfallversicherung: Mit dieser Versicherung wurden Arbeitnehmende gegen berufsbedingte Unfälle abgesichert. Die Beiträge wurden komplett von den Arbeitgebenden bezahlt und waren je nach Risiko gestaffelt.
- 1889 Alters- und Invaliditätsversicherung, ab 1891 Rentenversicherung: Arbeitnehmende, die in diese Versicherung eingezahlt hatten, erhielten bei Versicherungseintritt eine Rente. Die Beiträge wurden zur Hälfte von den Arbeitgebenden übernommen.
Die folgenden noch heute gültigen Grundsätze der Sozialgesetzgebung finden sich bereits in diesen frühen Regelungen:
- Gesetzliche Versicherungspflicht
- Anteilige Finanzierung der Beiträge durch Arbeitnehmende und Arbeitgebende
- Staatliche Aufsicht über die Versicherungen, die von öffentlich-rechtlichen Trägern verwaltet werden
Bewertung von Bismarcks Sozialgesetzgebung
Bismarcks Ziel, die Arbeiterschaft durch diese sozialpolitischen Zugeständnisse mit dem monarchistischen Staat auszusöhnen, erfüllte sich in der Praxis nicht. Eine Mehrheit der Arbeiterklasse durchschaute seine Strategie und lehnte sie deshalb ab. Zudem führten viele der beschlossenen Maßnahmen nicht weit genug: Die Leistungen der Sozialversicherung waren zu gering und die Voraussetzungen zu schwer zu erfüllen, um zu einer grundlegenden Verbesserung der sozialen Ungleichheit zu führen.
Aus heutiger Sicht ist die bismarcksche Sozialgesetzgebung dennoch eine historische Leistung, da erstmals ein staatliches Sozialsystem zur Absicherung von Arbeitnehmenden geschaffen wurde. Es wurde zum Vorbild für viele andere Staaten und bildet die Basis für unseren modernen Sozialstaat.
Vom Sozialistengesetz zur Sozialgesetzgebung — Zusammenfassung
- Der Sozialstaat in Deutschland geht in erster Linie auf die Sozialgesetzgebung unter Otto von Bismarck im 19. Jahrhundert zurück.
- Die Sozialgesetzgebung bildet dabei einen Teil von Bismarcks antisozialdemokratischer Politik, die auf der einen Seite Verbote und Unterdrückung, auf der anderen Seite eine Verbesserung der sozialen Situation der Arbeiterschaft umfasste.
- Das Sozialistengesetz von 1878 war Bismarcks Versuch, die politische Aktivität der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten durch das Verbot von Versammlungen, Vereinigungen und Veröffentlichungen zu unterbinden, um dadurch die Arbeiterbewegung nachhaltig zu schwächen.
- Trotz der Verbote wurde die politische Arbeit der Sozialdemokratie im Ausland und im Untergrund fortgesetzt. Bismarcks Ziel, die Sozialdemokratie zu schwächen, kann als gescheitert gelten.
- Als Gegengewicht zum Sozialistengesetz versuchte Bismarck, die Arbeiterschaft durch eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung mit dem Staat auszusöhnen. Zu diesem Zweck wurden die staatliche Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung eingeführt.
- Diese Sozialgesetzgebung gilt heute als eine der großen historischen Leistungen Bismarcks, mit Vorbildwirkung bis in unsere Zeit hinein.
Gründung des Deutschen Reiches 1871
Die Reichsgründung 1871
Die Verfassung des Deutschen Reichs 1871
Die Einigungskriege
Preußisches Dreiklassenwahlrecht
Die politischen Grundprinzipien Bismarcks
Vom „Sozialistengesetz“ zur Sozialgesetzgebung
Antisemitismus im Kaiserreich
Bismarcks Außenpolitik
Bismarcks Kulturkampf
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